Wie immer am zweiten Weihnachtstag will der Überlebende Frank Wetzig auch in diesem Jahr eine kleine Zeremonie am Strand von Khao Lak abhalten. Mit seiner Frau Lad und den beiden Söhnen wird er ein Herz in den Sand malen und es mit Kerzen füllen, Räucherstäbchen anzünden, Gebete sprechen. «Für Mama bringen wir Blumen mit, für Papa zünde ich eine Zigarette an», erzählt der 59-Jährige aus Witten im Ruhrgebiet, den alle nur «Franky« nennen. Seit über drei Jahrzehnten lebt er in Thailand – und ist auch geblieben, nachdem ihm der verheerende Tsunami vor 20 Jahren seine Eltern und sein ganzes Hab und Gut genommen hatte.
Ein Rückblick: Es ist der 26. Dezember 2004. Ein sonniger Tag im Süden von Thailand, viele Urlauber tummeln sich an den weißen Sandstränden der Andamanensee. Dann aber bebt die Erde. Das Zentrum der gewaltigen unterseeischen Erdstöße der Stärke 9,1 – das drittstärkste jemals gemessene Beben – liegt vor der Westküste von Nord-Sumatra im Indischen Ozean.
Kaum jemand ahnt, was für eine Naturkatastrophe kurz darauf auf die Küsten mehrerer Anrainerstaaten zurollt. Am Ende stehen schier unfassbare Zahlen: Mehr als 230.000 Menschen kommen ums Leben, die meisten in der Provinz Aceh auf der indonesischen Insel Sumatra. Aber auch andere Länder von Sri Lanka über Indien bis Tansania melden unzählige Tote. In Thailand sind es Schätzungen zufolge mindestens 5.400, darunter mehr als 500 Deutsche.
«Tsunami» war noch ein Fremdwort
Frühwarnsysteme gibt es damals noch nicht, der Begriff «Tsunami» ist den meisten unbekannt. Auch Franky, wie er selbst genannt werden möchte, macht sich nach den Erdstößen gegen 8.00 Uhr morgens zunächst keine großen Sorgen. Es ist Sonntag, er geht zurück ins Bett. «Es hat zwar alles gewackelt, aber ich hatte das gar nicht so richtig mitbekommen», erzählt er. «Ich dachte noch, vor uns läge ein ganz normaler Tag.» Die Idee, den Computer hochzufahren und nach Informationen zu suchen, verwirft er. «Das dauerte damals ja noch ewig mit Modem und so.»
Das Fatale: Bis die Flutwelle die Küste von Khao Lak erreicht, vergehen fast zwei Stunden. Die malerische Region auf dem Festland nördlich der Insel Phuket ist schon damals speziell bei deutschen Urlaubern beliebt und entwickelt sich gerade zum Tourismus-Hotspot.
Das Haus von Franky und seiner thailändischen Partnerin Lad, die gerade im vierten Monat schwanger ist, liegt nur 150 Meter vom Meer entfernt. Der Deutsche hat in seiner Wahlheimat unter anderem als Tauchlehrer und Schnorchelguide gearbeitet, bevor er in die Immobilienbranche wechselte. Dass er Tausende Tauchgänge absolviert hat und sich unter Wasser bestens auskennt, hat ihm wahrscheinlich das Leben gerettet.
Lad hat gerade auf Phuket an der Universität zu tun. Im Haus befinden sich an jenem Sonntag der damals 39-jährige Franky und seine Eltern. Die beiden Wittener wollen bis in den Januar bleiben, um den 75. Geburtstag des Vaters und den 40. Geburtstag des Sohnes zu feiern.
Das Erdbeben haben sie schon fast vergessen, da fällt plötzlich drei Mal hintereinander der Strom aus. Draußen sind Stimmen zu hören, immer lauter, Leute laufen aufgeregt an Frankys Küchenfenster vorbei, Autos hupen. «Wir wussten überhaupt nicht, was wir damit anfangen sollten», sagt er. «Dann hörten wir ein ganz seltsames Geräusch, fast wie ein D-Zug.»
Die Deutschen sind verwirrt, aber den Ernst der Lage erkennen sie noch immer nicht – wie auch? «Irgendwann sagte meine Mutter: „Das Wasser kommt!“», erinnert sich Franky. «Aber an einen Tsunami haben wir überhaupt nicht gedacht – wir glaubten immer noch, wir wären im Haus am sichersten.»
«Wir müssen hier raus!»
Dann aber steigt das Wasser ruckartig an, die Scheiben brechen und die tödliche Welle strömt mit einem einzigen Schwall ins Haus. «Ich schrie nur: „Raus! Wir müssen raus hier!“ Dann fehlt mir das Gedächtnis.» Frankys Erzählungen sind lebhaft und glasklar. «Ich weiß erst wieder, dass ich mich plötzlich draußen in den Fluten wiederfand und im Haus das Wasser schon bis zur Decke reichte», sagt er. Dann kommt der nächste Schwall, und Franky wird unter Wasser gedrückt. Da ahnt er noch nicht, dass er seine Eltern nie wiedersehen wird.
Erst 100 Meter weiter gelangt er wieder an die Oberfläche und treibt auf Dachhöhe auf einen Bungalow zu. Der aber stürzt vor seinen Augen teilweise ein und wird zum Gefängnis statt zum Rettungsanker: «Ich wurde wie in einer Toilettenspülung in die Überreste hineingesogen und war dort unter Wasser gefangen.»
Was viele nicht wissen: Das Wasser der Flut war nicht blau, wie allgemein angenommen und heute auf Tsunami-Warnschildern durch die typische blaue Welle vermittelt wird. «Es war schwarz, eine einzige schwarze Brühe, die ganz viel aufgewühltes Sediment mit sich führte», sagt Franky. «Es sah eher aus wie Altöl, nicht wie ein tropischer Ozean.»
Wie lange er in dem Bungalow unter Wasser ist, kann der Deutsche nicht sagen. Alles um ihn herum war pechschwarz, daran erinnert er sich. Und daran, dass ihm im Todeskampf all das vor sein inneres Auge kam, was er nicht mehr erleben würde – die Geburt seines Kindes vor allem.
Draußen tobt derweil «eine totale Kakophonie», wie Franky es nennt. «Es war wahnsinnig laut, auch unter Wasser. Bäume und Strommasten knickten um, aber man hörte auch die gurgelnden Laute von Menschen im Todeskampf.»
Dann stirbt auch er in gewisser Weise, vor lauter Angst, wie er sagt. «Ich fand mich in einem leeren Raum, ganz ohne Licht, wieder. Es war total beängstigend.» Sein Nahtoderlebnis sei furchtbar gewesen, «von wegen blühende Felder und leuchtender Tunnel». Gleichzeitig habe er instinktiv gewusst, dass er «woanders» war. «Es war das absolute Nichts.» In diesem Zwischenraum hat der Deutsche beängstigende Begegnungen mit düsteren Gestalten, aber er kämpft, wehrt sich, will partout nicht aufgeben.
Plötzlich findet er sich an der Wasseroberfläche wieder, direkt unter dem Dach des Bungalows, wo schon die meisten Dachziegel fehlen. «Ich nahm den tiefsten Atemzug meines Lebens», erinnert er sich. Dann aber geht er wieder unter und denkt schon, dass die ganze Tortur noch einmal von vorn losgeht. «Aber dann hatte ich das Gefühl, eine Hand auf meiner Schulter zu spüren und eine Stimme zu hören, die sagte: „Keine Angst, es ist gleich vorbei“. Und dann war ich plötzlich aus dem Haus herausgetrieben worden und an der Oberfläche.»
Szenen wie aus einem Horrorfilm
Als er mittels einer Matratze, die im Wasser treibt, einen Baum erreicht, auf den er sich setzen kann, ist er bis auf die Unterhose völlig nackt. «Direkt neben mir hing ein Toter. Leute riefen verzweifelt nach ihren Verwandten, ihren Kindern.» Instinktiv habe er da schon gewusst, dass seine Eltern es nicht geschafft hatten.
Als das Wasser sich schließlich zurückzieht, rettet er sich zusammen mit anderen auf ein Häuserdach. «Überall war grauer Schlamm, der eine Trümmerlandschaft bedeckte», sagt er. Darin unzählige Leichen, Szenen wie aus einem Horrorfilm. «Aber man selbst wird apathisch: Das ist ein Schutzmechanismus, der einsetzt, wenn die Realität zu schlimm wird.»
Drei Monate später. Inzwischen haben Rechtsmediziner Obduktionen «wie am Fließband» durchgeführt. Ein anderer Frank vom deutschen Kriseninterventionsteam rät Franky Wetzig, ein Zahnschema seiner Eltern aus Deutschland mitzubringen. Damit können Anfang April sowohl seine Mutter als auch sein Vater identifiziert werden. «Ich habe meinem Namensvetter für seine Hilfe nie danken können», sagt er.
Schutzgebäude und Evakuierungsrouten
Die Eltern werden in einem Tempel auf Phuket eingeäschert. Sein Haus baut der Auswanderer wieder auf, verkauft es aber dann. «Ich konnte dort einfach nicht mehr leben.» Thailand zu verlassen war aber nie eine Option. «Nur wenn meine Frau Lad die Katastrophe nicht überlebt hätte, dann hätte mich nichts mehr gehalten», sagt er nachdenklich. Lange ist er vom Erlebten traumatisiert, leidet unter Albträumen. Erst durch die Geburt seiner Söhne Martin (19) und Christopher (14) findet er wieder ins Leben zurück und leitet heute in Khao Lak eine kleine Hotelanlage namens «Coconut Homes Resort».
Auf dem Grundstück hat er einen Rettungsturm gebaut, in den sich seine Gäste im Fall der Fälle retten könnten. Überhaupt gibt es in Khao Lak, wo von den gewaltigen Schäden heute so gut wie nichts mehr zu sehen ist, mittlerweile überall Tsunami-Schutzgebäude und Evakuierungsrouten. Zudem werden die Bewohner mittels Warn-Apps über drohende Gefahren informiert. «Jeder weiß hier, wo er hin muss, wenn noch mal ein Tsunami kommt», sagt der örtliche Tourguide Thing.
Heute zeugt der Ban Nam Khem Tsunami Memorial Park, der einer Welle nachempfunden ist, von der Trauer der Hinterbliebenen. Fotos und Blumenschmuck, überall Erinnerungen an die Toten auf blau-weißen Fliesen.
«Du bist immer bei uns», schreibt eine Familie auf einer kleinen Gedenktafel. Nur ein paar Meter weiter glänzt das blaue Meer in der Sonne. Friedlich ist der Indische Ozean an diesem Tag, und doch irgendwie angsteinflößend an diesem Ort, wo die Überlebenden bis heute Herzen in den Sand malen.
Quelle: dpa