Nach dem Weihnachtsmarkt-Anschlag von Magdeburg sieht der Grüne Vizefraktionschef Konstantin von Notz ähnliche Defizite wie beim Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz. «Der entsetzliche Anschlag von Magdeburg erinnert auf frappierende Weise an den Anschlag vom Breitscheidplatz vor acht Jahren», sagte von Notz der «Rheinischen Post». 2016 war in Berlin ein islamistischer Terrorist mit einem entführten Lastwagen auf einen Weihnachtsmarkt gerast – 13 Menschen kamen ums Leben.
«Erneut scheint es im Hinblick auf den Täter und die von ihm ausgehende Bedrohung ein Gesamterkenntnisdefizit und ein Problem beim Zusammenführen der verschiedenen Informationen gegeben zu haben», sagte der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums. Er erwarte, dass die Bundesregierung und die Landesregierung in den kommenden Tagen detailliert darlegen, was sie zu welchem Zeitpunkt über Taleb A. wussten und wie mit den Hinweisen umgegangen wurde.
Taleb A. war mit einem Auto am Freitagabend über den Weihnachtsmarkt gerast und hatte fünf Menschen getötet und bis zu 235 verletzt. Er sitzt in Untersuchungshaft. Ihm werden fünffacher Mord, mehrfacher versuchter Mord und mehrfache gefährliche Körperverletzung vorgeworfen.
BKA erstellt Fallgeschichte zu Täter
Bundeskriminalamt und Bundesinnenministerium wollen nach dpa-Informationen bis zur Sondersitzung des Innenausschusses am kommenden Montag eine Fallchronologie zum Täter des Anschlags vorlegen. Es soll dabei zusammengetragen werden, welche Behörden zu welchem Zeitpunkt welche Hinweise zum Täter hatten und wie diesen nachgegangen wurde. Behörden in mindestens sechs Bundesländern sollen mit ihm zu tun gehabt haben.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser kündigte an, sie wolle Transparenz schaffen. Auf die Frage, ob die Sicherheitsbehörden den Anschlag nicht hätten verhindern müssen, sagte die SPD-Politikerin der Funke Mediengruppe: «Das wird in den Ermittlungen nach dieser furchtbaren Tat genaustens geprüft. Hier wird jeder Stein umgedreht – und volle Transparenz hergestellt.»
Faeser: Ermittlungen müssen klareres Bild ergeben für Ableitungen
«Genau wie wir aus dem schrecklichen Attentat in Solingen mit dem Sicherheitspaket der Bundesregierung umfassende Konsequenzen gezogen und danach die Sicherheitsbehörden gestärkt haben, werden wir auch jetzt alles tun, um die richtigen Lehren zu ziehen», sagte Faeser.
Die Motive des Täters seien aber noch diffus und passten in kein bisheriges Muster. Die Ermittlungen müssten noch ein klareres Bild ergeben. «Und daraus gilt es dann abzuleiten, welche Mechanismen in den Polizeibehörden geschärft werden müssen, um die Gefährlichkeit von Personen so präzise wie nur möglich zu ermitteln.»
Wie die Deutsche Presse-Agentur aus Sicherheitskreisen erfuhr, verdichten sich die Hinweise auf eine psychische Erkrankung des 50-Jährigen, der sich in sozialen Medien zuletzt zunehmend wirrer und radikaler geäußert hatte.
Faeser sagte erneut, die noch ausstehenden Gesetzentwürfe zur inneren Sicherheit sollten umgehend beschlossen werden und kritisierte FDP und Union für Blockaden in der Vergangenheit.«Außerdem brauchen wir die rechtssichere Speicherpflicht von IP-Adressen, die im Kampf gegen Kriminalität und Terrorismus essenziell ist und inzwischen vom Europäischen Gerichtshof nicht nur für zulässig, sondern für erforderlich erklärt wurde», sagte die Ministerin.
Von Notz: «Kein Defizit an Durchgriffsoptionen»
Von Notz sieht das Problem allerdings nicht bei den Befugnissen der Behörden. «Es kann nicht sein, dass es einem Täter zum Vorteil gereicht, wenn er seine Aktivitäten auf mehrere Bundesländer verteilt. Es wird sich in der Aufklärung zeigen, ob sich diese föderalismusbedingten Probleme bestätigen», sagte er der Funke Mediengruppe. Es erschließe sich ihm nicht, wie man als Reaktion auf diesen Anschlag nun wieder mit der Vorratsdatenspeicherung um die Ecke kommen wolle.
«Die Behörden haben ja offenbar nicht mal die öffentlichen Tweets dieses Mannes gelesen. Man hat hier kein Defizit an Durchgriffsoptionen, man hat ein Handlungsdefizit.»
Unionsfraktionsvize: Vermittlungsausschuss um Sicherheitspaket
Unterdessen forderte Unionsfraktionsvize Andrea Lindholz für die verbleibenden Teile des Sicherheitspakets, den Vermittlungsausschuss anzurufen. «Wenn es Frau Faeser ernst meint, muss sie jetzt den Vermittlungsausschuss zum Sicherheitspaket anrufen. Dann besteht die Chance, in den verbleibenden Wochen bis zur Bundestagswahl noch einen echten Fortschritt für die Sicherheit in unserem Land zu erzielen», sagte sie der «Rheinischen Post».
Es brauche ein Sicherheitspaket, das den Behörden wirksame Befugnisse an die Hand gibt. Die CSU-Politikerin nannte etwa die Mindestspeicherfrist für IP-Adressen. «Aber auch Befugnisse zur automatisierten Gesichtserkennung und zum Internetabgleich von Polizeidaten, die das verfassungsrechtlich Mögliche ausschöpfen, müssen wir regeln.»
«Wenn die SPD sich jetzt tatsächlich bewegt, ist das gut. Sollte sie aber wieder nur Alibi-Rechtsänderungen im Sinn haben, steht die Union dafür nicht bereit», sagte Lindholz.
Im Oktober hatte der Bundestag das von SPD, Grünen und FDP nach dem islamistischen Messeranschlag von Solingen beschlossene «Sicherheitspaket» im Oktober angenommen. Den Teil, der Pläne für den Abgleich von Fotos und anderen biometrischen Daten im Internet durch die Sicherheitsbehörden betrifft, stoppte dann aber der Bundesrat.
Die rot-grüne Bundesregierung hat nach dem Scheitern der Ampel keine Mehrheit im Bundestag mehr und ist bei Gesetzesvorhaben auf die Unterstützung anderer Fraktionen angewiesen.
Quelle: dpa